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Zum Buch
Still von Zoran Drvenkar – Eder & Bach – 416 Seiten – ISBN 978-3-945386-00-2 – Softcover – 16,95 Euro – bei glatteis kaufen
Inhalt
Lucia ist vor sechs Jahren ihren Entführern entkommen und hat sich durch Schnee und Eis, bekleidet nur mit einem T-Shirt, zurück ins Leben gekämpft. Seit diesem Tag ist sie stumm und spricht kein Wort. Im Pflegeheim, in das sie ihre Eltern abgeschoben haben, sitzt sie nur auf einem Stuhl und sieht aus dem Fenster. Sie vegetiert vor sich hin, kein Mensch kann sie erreichen und keiner weiß, wie schlimm es in ihrer Seele aussieht. Mika Stellar aber will es versuchen und mehr über die Entführer erfahren. Er hat Rache geschworen und wird nicht aufgeben, bis er die Täter gefunden hat…
Meine Meinung
Zoran Drvenkar und ich waren in der Vergangenheit bisher keine Freunde. Irgendwie gab es immer etwas an seinen Büchern, das mir nicht gefiel und eine Geschichte, in die ich nicht heineingefunden habe. Mit „Still“ hat er es nun aber geschafft, mich vollkommen zu überzeugen und mein Thrillerherz höher schlagen zu lassen. Zurecht wird dieses Buch bei den Kritikern gefeiert und glücklicherweise gibt der Klappentext nicht wirklich viele Informationen her. Auf dieses Buch kann man sich nicht vorbereiten, man muss sich einfach darauf einlassen.
Erzählt wird die Geschichte in drei unterschiedlichen Erzählsträngen. „Ich“ ist Mika Stellar, der in Wirklichkeit ganz anders heißt und ein Mann ist, der von Rache getrieben wird. „Du“ ist ein junges Mädchen, das verlassen in einem Pflegeheim sitzt und kein Wort spricht. Stumm geworden, weil Erlebnisse in der Vergangenheit sie dazu gezwungen haben. „Sie“ ist eine Gruppe von Männern, die eine Tradition pflegen, die so unfassbar ist, dass man als Leser gar nicht genauer drüber nachdenken möchte. Diese drei Erzählstränge verknüpft Zoran Drvenkar so geschickt, dass am Ende ein brisanter, spannender und psychopathischer Thriller entsteht, den ich kaum zur Seite legen konnte.
„Mit oberflächlichen Wunden kann man leben. Für eine Weile zumindest. Aber jede noch so unbedeutende Wunde blutet, und so fließt jeden Tag das Leben aus uns heraus, während das Herz schlägt und schlägt und wir dabei reden, essen, lieben oder in der Sonne liegen und tun, was auch immer wir tun, weil wir es nicht besser wissen. Jahr für Jahr verläßt uns die Kraft ein wenig mehr, weil selbst die kleinste Lüge Schaden anrichtet. Ich weiß, wovon ich rede. Ich blute ohne Pause.“ S. 62
Drvenkars Schreibstil gefällt auf den ersten Blick vielleicht nicht jedem. So ging es mir zumindest früher. Er schreibt oft kurz und knapp, nüchtern und ausdrucksvoll zugleich. Wörtliche Rede wird nie in Anführungszeichen gesetzt und er bedient sich an der alten Rechtschreibung. Trotzdem schafft er es gerade deshalb, eine unglaubliche Sogwirkung mit seinen Texten zu erzielen. Er ist Meister der Erzählkunst, denn diese beklemmende Atmosphäre und diese furchtbare Grundstimmung, die er mit diesem Buch erschafft, ergibt sich allein durch seine Erzählung. Dieses Buch kommt ohne viel Effekthascherei und Blut aus und besticht durch Worte, die aneinandergereiht diese komplexe Geschichte ergeben. Hier ist kein Wort zu viel, kein Ablauf zu langsam. Diese Geschichte braucht Zeit und wird trotzdem an keiner Stelle langweilig. Wer viele Thriller liest der kennt sich einigermaßen im Genre aus und wird sowas trotzdem noch nirgends gesehen haben.
Die Geschichte spielt im Winter, in verschneiten Wäldern rund um Berlin. Allein das Setting ist damit perfekt gewählt, denn der Leser ist mittendrin. Spürt die Schneeflocken fallen, das knirschen von Schnee unter den Schuhen, die bedrückende Stille ringsum. Und eben weil der Leser sich so gut in diese Geschichte hineinversetzten kann, diese drückende Stimmung spürt, diese Stille wahrnimmt, eben genau darum ist dieses Buch noch eine Spur grauenvoller, kälter und abschreckender.
Die Charaktere sind wahnsinnig gut ausgearbeitet und unglaublich faszinierend. Am besten haben mir hier eindeutig Mika Stellar und Lucia gefallen. Lucia ist das Mädchen, das stumm im Pflegeheim sitzt. Auf den ersten Blick betrachtet eine Verrückte, die nach den tragischen Ereignissen in der Vergangenheit den Bezug zur Realität verloren hat und von der Außenwelt zurückgezogen lebt. Der aufmerksame Betrachter wird aber bald feststellen, dass da noch so etwas wie Leben in ihr steckt und es ist unglaublich spannend zu sehen, wie Mika Stellar ihr eine Stimme gibt und sie damit die Geschichte verändert.
Fazit
„Still“ ist ein Psychothriller, wie ein Psychothriller sein sollte. Er greift auf psychischer Ebene an, dringt so zum Leser vor und schafft eine beklemmende, düstere, schockierende und fesselnde Atmosphäre der man sich, einmal mit dem Buch angefangen, in keinster Weise entziehen kann. Sprachgewaltig erzählt Zoran Drvenkar diese verstörende Geschichte und begeisterte mich damit von der ersten bis zur letzten Seite. Eine absolute Leseempfehlung für Fans des Genres.
5/5 Punkten
7 Kommentare
Liebe Petzi – ich habe allein schon beim Lesen deiner Rezension eine Gänsehaut bekommen! „Still“ kommt also definitiv auf die Wunschliste 🙂
Danke für die tolle Rezension!
Liebste Grüße,
Jess
Ui, ich freu mich, dass das Buch auch bei Dir so gut angekommen ist! 🙂 Stimme Dir in allen Punkten zu, das Buch hat mich auch weggefegt und tatsächlich habe ich vergleichbares auch noch nicht erzählt bekommen, ziemlich großartig! 😀
Liebe Petzi,
Ich fand das Buch auch sehr gut! Extrem spannend, erschreckend und grausam. Das Ende war für mich ziemlich überraschend 😀
Es gibt aber sehr unterschiedliche Meinungen und ich finde es immer wieder interessant wie die Ansichten auseinander gehen.
Liebe Grüße
Janice
Scheint ja ein wirklich spannender Thriller zu sein – merke ich mir :-). Danke und liebe Grüße, Birthe
Liebe Petzi,
eine tolle Rezi. Ich habe mich von Drvenkar eher ferngehalten, weil ich Thriller nicht immer so gut aushalten kann. Ich bin für diesen psychischen Druck einfach nicht gemacht. Allerdings habeich seinen Jugendroman „Der letzte Engel“ gelesen und war von seiner Schreibe richtig begeistert. Deine Rezi spricht mich total an, aber ich glaube, dass „Still“ für mich einfach zu „hart“ ist, oder?
LG Nanni
Hallo liebe Petzi,
Vielen Dank für diese tolle Rezension. Ich war selbst krankheitsbedingt ein halbes Jahr stumm und interessiere mich deswegen besonders für dieses Buch. Du erleichterst mir damit die Entscheidung ungemein. Ich habe jetzt das Gefühl zu wissen, worauf ich mich einlasse 🙂
Herzlichen Dank,
Emilie
http://www.blaetterwind.blogspot.de/
Und noch eine begeisterte Stimme zu diesem Buch – es muss ja wirklich ein besonderes Lesehighlight sein. Danke für deine gewaltige Rezension und das gut gewählte Zitat, das direkt für Gänsehaut gesorgt hat 🙂